Rankin über Rebus. Die Entstehung einer Kultfigur

Aus dem Englischen von Conny Lösch

„Männlicher Held (Polizist?)“

So lautete meine erste Notiz, datiert auf den 15. März 1985, zu der Figur, die später Detective Inspector John Rebus wurde. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, Doktorand an der University of Edinburgh und teilte mir mit zwei anderen Doktorandinnen eine Wohnung in der Arden Street. Seit sechseinhalb Jahren lebte ich mittlerweile in der Stadt, hatte sie aber noch immer nicht ganz zu fassen bekommen. Ich promovierte über die Romanautorin Muriel Spark und begann durch sie das phantastische Edinburgh zu ergründen.

Die Heldin aus Sparks berühmtestem Werk, The Prime of Miss Jean Brodie (Die Blütezeit der Miss Jean Brodie), stammt von William Brodie ab, einer historischen Figur, die tatsächlich existiert hat. Brodie war Diakon der Stadt, Ratsmitglied und Möbeltischler – und ein Mann mit einem Doppelleben. Hochangesehen und tüchtig bei Tage, war er nachts der Anführer einer maskierten Bande, die in Häuser eindrang und deren Bewohner ihrer Wertsachen beraubte. Auf diese Weise finanzierte Brodie seinen ausschweifenden Lebensstil (zu dem auch ein paar anspruchsvolle Geliebte gehörten). Außerdem hatte er sich auf das Schlosserhandwerk verlegt, weshalb es ihm ohne Probleme gelang, sich unrechtmäßigen Zutritt zu verschaffen. Nach seiner Festnahme und Verurteilung wurde er auf einem Schafott gehängt, zu dessen Modernisierung er in seinem Hauptberuf selbst beigetragen hatte.
Aber Brodie diente darüber hinaus auch als Vorlage für eine weitere großartige Figur der schottischen Literatur – Robert Louis Stevensons Dr. Henry Jekyll. Muriel Spark war ein großer Fan von Stevenson, und so führten mich meine Recherchen auch zu Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Allerdings hatte James Hogg bereits vor Stevenson in seinen Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner die Vorstellung von einem Doppelgänger ausgeführt – ich musste also auch dieses Buch lesen. Gleichzeitig fand ich die aktuelle Literaturtheorie immer interessanter und hatte großen Spaß am „spielerischen“ Aspekt des Erzählens. Nicht umsonst benannte ich meinen fiktiven Detective nach einer Art Bilderrätsel und ließ ihn seinen ersten Fall mit Hilfe eines Professors für Semiotik lösen.

Das ist das Problem mit Knots and Crosses (Verborgene Muster) und einer der Gründe, weshalb es mir heutzutage schwerfällt, das Buch zu lesen – es wurde ganz offensichtlich von einem Studenten der Literaturwissenschaften geschrieben. Rebus liest viel zu viel und zitiert sogar Walt Whitman – einen Schriftsteller dessen Werke er wirklich nicht hätte kennen dürfen. Er ist übertrieben belesen, vielleicht weil ich ihn damals noch gar nicht richtig kannte. Ich war gerade vierundzwanzig und wusste herzlich wenig vom außerakademischen Leben. Ganz bestimmt hatte ich keine Ahnung von der Arbeit eines Polizisten. Aufgrund des Plots von Knots and Crosses musste Rebus ein gestandener Profi sein, und so ließ ich ihn vierzig Jahre alt sein. Er lebte von seiner Frau getrennt und hatte eine kleine Tochter. Er war in so vielerlei Hinsicht anders als ich und ausgerechnet unsere einzige Gemeinsamkeit – die Liebe zur Literatur – ließ ihn alles andere als realistisch erscheinen. Heute kommt es mir so vor, als hätte ich mich gar nicht für Rebus als Person interessiert – er ermöglichte es mir nur, eine Geschichte über Edinburgh zu erzählen und die Tradition des literarischen Doppelgängers fortzuführen. Knots and Crosses war vorsichtig an Jekyll and Hyde angelehnt, ebenso wie ein späterer Rebus-Roman, The Black Book (Verschlüsselte Wahrheit), auf Justified Sinner basierte. Es ist nämlich so: Ich war schon immer eine Art Outsider / Doppelgänger, der der Welt mehrere Gesichter präsentieren will.

Ich wuchs in einer recht rauen Gegend auf, einer Stadt mit 7000 Einwohnern, kaum mehr als ein Dorf mit ein paar umliegenden Farmen − bis man dort zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Kohle entdeckte. Damals zog mein Großvater mit seiner Familie in den Osten des Kohlereviers von Lanarkshire. Rasch wurden billige Häuser für die neue Arbeiterschaft gebaut. Nicht einmal für Straßennamen war genug Zeit, sie wurden durchnummeriert. Mein Dad, der Jüngste von sieben Geschwistern, arbeitete nicht unter Tage, aber alle seine Brüder. Als ich auf die Welt kam, wurde die Kohle schon wieder knapp. Eines Tages blieb die Hupe stumm, die den Beginn der neuen Schicht ankündigte, und das war’s. Nicht, dass ich viel davon mitbekommen hätte, ich war zu sehr damit beschäftigt, mein eigenes Leben in meinem Kopf zu führen. Darin befand sich eine andere Welt – eine phantastische Welt voller Raumschiffe, Soldaten und aufregenden Abenteuern. Im Winter stellte ich mir vor, mein Bett sei ein Lager in der Arktis – was gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt war. Geheizt wurde nur unten im Wohnzimmer, und wenn ich in den Wintermonaten morgens aufwachte, hatte sich auf der Innenseite meines Fensters ein dünner Eisfilm gebildet. Doch in meiner noch jungen Phantasie kam mir selbst das Eis eigenartig und wunderbar vor. Ich lag mit einer Taschenlampe und einem Riesenstapel Comics – britischen und amerikanischen - unter dicken Decken. Schon bald zeichnete ich meine eigenen, faltete Blätter zusammen und schnitt die Kanten auf, sodass kleine achtseitige Hefte entstanden, in die ich malte und kritzelte – immer mehr Raumschiffe und Soldaten. Ich glaube mich erinnern zu können, wie ich meiner Mutter eines meiner Werke zeigte und sie einigermaßen verstört reagierte. Vielleicht hatte sie etwas entdeckt, das mir verborgen geblieben war – möglicherweise einen Mangel an künstlerischem Talent.

Nicht dass das eine Rolle gespielt hätte, denn im Alter von zwölf Jahren verlegte ich mich bereits von Comics auf Musik. Ich kaufte mir die Singles aus den Charts und las Musikzeitschriften. Poster schmückten die Wände meines Zimmers. Der ältere Bruder eines Freundes öffnete mir die Ohren für Frank Zappa, Jethro Tull und Led Zeppelin. Meine Mutter erklärte sich bereit, mir ein Hendrix-Album zum Geburtstag zu schenken, auch wenn das bedeutete, dass sie den gefürchteten „Hippie“-Plattenladen in Kirkcaldy betreten musste. Und wie bei den Comics wollte ich irgendwann nicht mehr nur unbeteiligter Beobachter sein – ich wollte meine eigene Band gründen und erfand deshalb auf dem Papier, was im wahren Leben nicht möglich war. Mein Alter-Ego war der Sänger Ian Kaput, der mit dem Gitarristen Blue Lightning und dem Bassisten Zed ‚Killer’ Macintosh (sowie einem Schlagzeuger, dessen Doppelnamen mir gerade entfallen ist) Musik machte. Die Gruppe hieß The Amoebas. Am Anfang spielten sie Drei-Minuten-Popsongs, gingen aber irgendwann zu Prog-Rock über. Ihr Meisterstück dauerte sechsundzwanzig Minuten und hieß „Continuous Repercussions“ – ich war die ganze Zeit dabei, schrieb Texte, entwarf Plattencover, plante Welttourneen und Fernsehauftritte. Jede Woche erfand ich eine Top-Ten-Liste – für Alben und Singles – und musste mir deshalb jede Woche auch neun weitere Gruppen ausdenken ... So ging es immer weiter.

Heute ist mir bewusst, dass ich damals „Gott spielte“, mir meine Welt neu erfand und sie aufregender und interessanter gestaltete als die Realität. Etwas, das alle Schriftsteller machen, und allmählich begann ich, mich wie einer zu fühlen. Meine Eltern waren keine großen Leser, und zu Hause gab es nur wenige Bücher, trotzdem zogen mich Geschichten magisch an. Ich durchstöberte die Stadtbibliothek und lieh schon bald „erwachsene“ Bücher aus, Bücher, deren Verfilmungen ich im Kino noch gar nicht sehen durfte. Im Alter von dreizehn Jahren las ich Mario Puzos Der Pate und A Clockwork Orange von Anthony Burgess. Mit vierzehn Einer flog über das Kuckucksnest. Auch die Shaft-Bücher von Ernest Tidyman bekam ich in die Finger (und gab Rebus später den Vornamen John als kleine Hommage an den „schwarzen Schnüffler“ John Shaft). Ich durchforstete das Fernsehprogramm auf der Suche nach Büchersendungen, sah sie mir an und beschloss danach, ich müsse unbedingt diesen Solschenizyn lesen (ich quälte mich durch den zweiten Band von Der Archipel Gulag). Ich scheiterte an Dantes Inferno, fand aber den ersten Erzählband von Ian McEwan ziemlich spannend. Englisch war mein bestes Fach in der Schule. Aufsätze schrieb ich schon immer gerne (im Prinzip waren das ja Kurzgeschichten). Einer hieß „Paradox“ und handelte von einem Mann, anscheinend dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, der, wie sich später herausstellte, tatsächlich Patient einer Irrenanstalt war. Meinem Lehrer gefiel die Geschichte, doch er fragte sich, weshalb ich mich für diesen Titel entschieden hatte. Das sei der Titel eines Songs von Hawkwind, erklärte ich, mir habe einfach der Klang und das Aussehen des Wortes gefallen. „Und, nein Sir, ich habe keine Ahnung, was es bedeutet.

Für einen anderen Text bekamen wir folgenden Satz vorgegeben: „Dunkel waren sie und golden ihre Augen“. Ich schrieb über Eltern, die ihren abtrünnigen Sohn in einem Haus voller Junkies suchten. Worte waren meine Leidenschaft. Ich löste Kreuzworträtsel, blätterte im Wörterbuch, merkte mir interessante neue Begriffe (nach dem oben erwähnten Wortwechsel auch „paradox“). Und aus den Songtexten der Amoebas wurden Gedichte, wovon ich eines bei einem landesweiten Preisausschreiben einreichte. Es hieß „Euthanasia“ (ein weiteres großartig klingendes Wort), und ich wurde Zweiter. Als mein Erfolg in der Lokalzeitung Erwähnung fand, erfuhren auch meine Eltern erstmals, dass ich Gedichte schrieb. Bis dahin hatte ich mich nicht getraut, jemandem davon zu erzählen (auch Muriel Sparks erste Veröffentlichung war ein preisgekröntes Schulgedicht ...).
Als Chamäleon war ich immer erfolgreich gewesen, hatte so getan, als würde ich dazugehören. Ich hing mit den harten Jungs an Straßenecken ab. Spielte (schlecht) Fußball und fuhr Fahrrad. Aber wenn es zu einer Schlägerei kam, stand ich immer am Rand und beobachtete alles genau, ohne mich einzumischen. Wieder zu Hause ging ich direkt in mein Zimmer und schrieb Gedichte über Prügeleien, Alkohol und die ersten sexuellen Erfahrungen. Anschließend ließ ich mein Notizbuch wieder unterm Bett verschwinden, verborgen vor den Blicken anderer.

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